Soll ich Lebewohl sagen?

Magazin Herbst 2021

«Leben und Tod sind eins, so wie der Fluss und das Meer eins sind.» Kahlil Gibran

In den indigenen Adivasi-Gesellschaften herrscht der feste Glaube, dass, wenn jemand stirbt, er/sie im Geiste zu seinen/ihren Lieben zurückkehrt, zu den Menschen, mit denen er/sie das Leben geteilt hat, zu den Gemeinschaften, mit denen er/sie sich gegen Ungerechtigkeit gewehrt hat. Zur Feier dieser Rückkehr versammelt sich einige Tage nach dem Tod die gesamte Dorfgemeinschaft vor dem Haus des Verstorbenen, und der Dorfpriester ruft den Geist des Verstorbenen an und lädt ihn ein, zurückzukommen und in ihren Häusern zu wohnen, um Zeuge von allem zu sein, was mit den Lieben geschieht und sie auf ihrem Lebensweg zu leiten und zu begleiten.
Dann verkündet der Priester, in welcher Form der Geist ins Haus zurückgekehrt ist. Es kann eine Pflanze, ein Baum oder ein Tier sein, dem er/sie während seines/ihres Lebens nahestand oder mit dem er/sie verbunden war. Der Priester führt den Geist dann zum Adig (dem Ort, an dem das Essen für die Familie zubereitet wird). Wenn sich nun die Familienmitglieder zum Essen zusammensetzen, nimmt das älteste männliche Familienmitglied ein paar Körner von seinem Teller und legt sie ausserhalb seines Tellers ab. Er betet, der Geist möge mit ihnen sein, während sie ihren Körper mit Nahrung nähren, damit sie ein gesundes Leben führen und für das Wohl der Familie und der Gemeinschaft.
Dieser Gedanke findet sich auch in anderen Traditionen wieder. Märtyrer werden amar (über den Tod hinaus) bezeichnet. Einige religiöse Texte interpretieren den Tod als «das Leben wird verändert, nicht beendet». Der Ausspruch des Dichters Kahlil Gibran «Der Fluss und das Meer sind eins» bedeutet, dass das frische Wasser des Flusses, wenn es ins Meer fliesst, zu Salzwasser wird, aber Wasser bleibt Wasser. Die Form mag sich ändern, aber die Substanz bleibt dieselbe.
Ich habe mich von solchen Gedanken und Einstellungen inspirieren lassen. Ich denke oft an diejenigen, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben und die Mutter Erde nun in ihren Schoss aufgenommen hat. Sie sind mir auf Schritt und Tritt nahe, führen mich, stärken mich in einer nie versiegenden Solidarität.
So möchte ich in Erinnerung bleiben, bei nahen und lieben Kollegen und Kameraden sowie denjenigen, die ich nach besten Kräften in ihrem Kampf für Wahrheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit begleitet habe. Aber das Leben ist immer noch da, um zu leben. Mögen wir alle unser Leben in vollen Zügen geniessen!

Stan Swamy SJ

 

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