Jeder Vierte ist ein Flüchtling

: Interview

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Jeder Vierte ist ein Flüchtling

Interview mit Stefan Hengst SJ, Leiter des JRS im Libanon

Kein Land nimmt so viele syrische Flüchtlinge auf wie das Nachbarland Libanon. 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge wurden registriert, eine weitere halbe Million lebt Schätzungen zu Folge ohne Registrierung im Land. Nun hat der Libanon die Notbremse gezogen und die Grenzen dicht gemacht. Ab Anfang Januar benötigen Syrer ein Einreise-Visum. Über die Auswirkungen sprach die Jesuitenmission Nürnberg mit dem deutschen Jesuitenpater Stefan Hengst SJ, der seit Oktober den Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) vor Ort leitet.

Pater Hengst, bevor Sie die Leitung des JRS im Libanon übernommen haben, waren Sie in der Türkei tätig. Wie unterscheidet sich der Alltag in den beiden Ländern?

Alles ist anders. Ich schaue aus meinem Fenster im siebten Stock und sehe fünf Kirchen und eine Moschee. Der Gebetsruf der Moschee ist kaum zu hören dafür aber das Läuten der Glocken. Zugegeben, ich lebe in einem christlichen Viertel in Beirut, aber selbst so etwas gibt es in der Türkei außerhalb Istanbuls nicht.

Ich kann öffentlich als Priester erkennbar sein. In der Türkei gab es eine Gelegenheit, bei der wir Jesuiten einen römischen Kragen trugen. Nach der Veranstaltung sind wir noch essen gegangen. Bevor wir aus dem Wagen stiegen, haben wir alle den weißen Kragen aus dem Hemd entfernt.

Ohne ein Experte zu sein, würde ich sagen, dass der Islam im Libanon anders ist als in der Türkei. Die Türkei macht einen Prozess der Islamisierung durch und der Islam prägt das tägliche Leben, weil er die Religion der Mehrheit ist. Er ist nicht aggressiv, aber dominant und dominierend. Im Libanon ist er eine Religion unter mehreren aber dafür mehr sektiererisch und politisch (wie die christlichen Kirchen auch).

Flüchtlinge sieht man im Libanon genauso wie in der Türkei. Es sind zum Beispiel die Männer, die an den Kreuzungen warten, dass sie jemand für den Tag anstellt. Im Bekaa-Tal ändert sich das Bild dann. Dort gibt es eine Zeltsiedlung nach der anderen, etwas, was in der Türkei nicht der Fall ist.

Jeder Vierte ein Flüchtling. Wie kann ein Land so etwas verkraften? Was bedeutet das für die Arbeit des JRS und in welcher Form ist der JRS für die Flüchtlinge im Libanon aktiv?

Man muss sich einmal vorstellen, welche Leistung der Libanon vollbracht hat. Deutschland müsste 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen. Vergessen darf man außerdem nicht, dass Syrien eine unrühmliche Rolle im libanesischen Bürgerkrieg gespielt hat. Die Erinnerungen sind noch relativ frisch, genauso wie Zwistigkeiten untereinander. Seit mehreren Monaten hat das Land keinen Präsidenten, weil sich die Parteien nicht einigen können. Ohne Präsidenten konnte kein neues Parlament gewählt werden. Das alte macht also einfach weiter.

Flüchtlinge, die in den Libanon gekommen sind, drängen in den Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die Mieten gehen hinauf und die Löhne nach unten. Arbeitslosigkeit ist auch für die Libanesen ein großes Problem. Die Wirtschaftsleistung des Libanon ist gesunken. Unterschiedlich stark bekommen das die syrischen Flüchtlinge zu spüren. In Byblos werden sie kritisch beäugt, wenn sie sich treffen und als Gruppe auftreten. Unsere Schülerinnen und Schüler sagen, dass die JRS-Schule der einzige Ort ist, an dem sie sich wohl fühlen, an dem sie lachen können.

Der JRS betreibt drei Schulen im Libanon. Eigentlich könnten die Kinder in die libanesische Schule gehen, da alle Arabisch sprechen, aber das Curriculum unterscheidet sich zu stark. Einige Fächer im Libanon werden in Englisch oder Französisch unterrichtet, was in Syrien nicht der Fall ist. Zudem macht die Regierung es für Syrer fast unmöglich, eine öffentliche Schule zu besuchen. Wenn es dann doch zu klappen scheint, stellt sich der lokale Schuldirektor dagegen aus Rücksicht auf sein libanesisches Umfeld.Schulen sind Orte, von denen wir weitere Aktivitäten starten können, so haben wir Sozialarbeiter für die Kinder und Familien und werden Alphabetisierung für Frauen, Computer- und Englischunterricht anbieten. Viele unserer syrischen Flüchtlinge kommen aus Gegenden, in denen die Bildung der Frauen keinen besonderen Wert darstellt. Schule und Arbeit mit Mädchen und jungen Frauen ist eine Priorität. Eine unsere Schülerinnen hat die Schule verlassen, weil sie geheiratet hat – und das weit jünger als 18 Jahre. Wenn den Mädchen keine Alternativen eröffnet werden, führt ihr Weg oft in eine zu frühe Heirat.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Familienbesuchen in deren Wohnungen. Wir versuchen die Familien zu begleiten und zu unterstützen, aber vor allem bei ihnen zu sein. Wir lassen uns einladen und hören zu. Würde und Respekt. Dazu gehört auch, auf die dringendste Not zu reagieren, so dass wir Lebensmittelpakete verteilen und Winterartikel.

In einer Schule haben wir beobachtet, dass die Kinder sich nicht konzentrieren können. Das liegt daran, dass sie ohne Frühstück zu uns kommen und nur eine Mahlzeit am Tag haben, normalerweise so gegen 16 Uhr. Wir reagieren darauf, in dem wir ein ordentlich gekochtes Schulessen anbieten. Der JRS hat noch manche weitere gute Idee, wie die Partnerschaft mit einer anderen NGO, die uns an zwei Tagen in der Woche einen Doktor stellen wird. Langsam wird unsere Arbeit reichhaltiger, aber damit auch der Geldbedarf.

Wie sicher ist der Libanon für Sie und Ihre Mitarbeiter des JRS?

Im Libanon lebt man schon seit vielen Jahren mit einem kalkulierten Risiko. Es gibt Karten, in denen sichere, bedingt sichere und unsichere Gegenden markiert sind. Generell können sich Libanesen und Syrer freier im Land bewegen als Ausländer. Gegen Anschläge ist zwar niemand gefeit, aber westliche Ausländer haben das zusätzliche Risiko, entführt zu werden vom IS oder seinen Partnern. All dies wissend ist das Leben doch normal. Man hält sich an die Regeln, wie schon für Jahrzehnte, und es geht gut. Eine Mitarbeiterin sagte, dass sie es gar nicht anders kennt und sie wuchs auf nach dem libanesischen Bürgerkrieg.

Sicherheit hat für den JRS eine Priorität. Noch im Januar werden wir alle durch eine Schulung gehen. Jeden Tag bekommen wir eine Situationsanalyse und wichtige Veränderungen werden uns direkt auf das Handy geschickt. Und wenn sich doch mal die Situation in einem Projekt verschlechtert, gibt es einen Sicherheitsplan. Unsere beste Versicherung ist eine gute Beziehung zu den Nachbarn und den Behörden. Beides pflegen wir und außerdem zählt das J im JRS hier etwas. Die Jesuiten sind bekannt und geschätzt.

Ist eine Radikalisierung im Alltag zu spüren?

Bei Zusammenstößen an der syrischen Grenze sind Sicherheitskräfte entführt worden. Einige wurden enthauptet. Die Familien und die Bevölkerung sind in großer Sorge. Es gibt einen ständigen Protest am Parlament, wo die Familien der Entführten in Zelten aushalten. Das hat dazu geführt, dass an einem Punkt Gruppen ein Ultimatum gegen die Syrer ausgesprochen haben, dass sie in 24 Stunden das Land zu verlassen haben. Zum Glück ist damals nichts passiert. Auf anderem Weg will jetzt die Regierung die Zahl der Flüchtlinge reduzieren. Syrer bekommen nur noch kurzfristige Visa, die zudem auch noch recht teuer sind. Die Bedingungen sind nicht einfach zu erfüllen.

Die Regierung versucht, auf rechtlichem Weg einen Wandel herbeizuführen, bevor der Unmut der Bevölkerung gewalttätig wird. Das Land kann die Last nicht mehr lange tragen. Die Geduld der Bevölkerung wird auch kleiner. Es scheint, dass die Regierung einer weiteren Radikalisierung der Bevölkerung durch die Verschärfung der Gesetze zuvorkommen will.

Es bleibt zu hoffen, dass die Behörden eine menschliche Weise der Nichtanwendung der Regeln finden. Und besser wäre noch ein Frieden in Syrien.

Gerade suchte zudem ein strenger Wintersturm die Gegend heim. Was wird jetzt vor allem gebraucht?

Wir haben gerade einen der heftigsten Winterstürme der letzten Jahre hinter uns. Es hat bis auf 500 Meter herunter geschneit. Das Bekaa-Tal, in dem viele Flüchtlinge in Zelten leben, liegt 900 Meter hoch. Straßen dorthin waren gesperrt. In unserer Schule dort haben wir kleine Öfen in den Klassenzimmern, die mit Diesel betrieben werden. Wenigstens dort können sich die Kinder einmal aufwärmen. Zuhause, wenn man das so nennen darf, müssen sie zusammenrücken, um sich warmzuhalten. Eine Umfrage ergab, dass Decken bevorzugt werden. Man kann sie vielseitig einsetzen, man schläft darunter und darauf, kann darauf sitzen und sie als Teppichersatz verwenden.

Hygiene ist bei solchen Temperaturen ein anderes sehr drängendes Problem. Viele haben kein Badezimmer und schon gar nicht das Geld um Wasser zu wärmen. Was im Sommer noch geht, wird im Winter zum echten Problem. Krätze und Läuse sind die Folgen.

Das Beste wäre eine ordentliche Heizung für jede Familie, aber das ist nur ein frommer Wunsch, denn sie produziert ständig Kosten, die niemand aufbringen kann. Decken, Winterjacken, Pullover und lange Unterwäsche müssen ausreichen, um den Winter zu überstehen.

Jede Unterstützung hilft, um die Menschen, die ihre Heimat aus Angst und Schrecken verlassen mussten, bei der Ankunft im neuen Land mit dem Nötigsten zu versorgen.

Missionsprokur der Schweizer Jesuiten (Franz Xaver Stiftung)

PostFinance 80-22076-4

IBAN CH48 0900 0000 8002 2076 4

Weitere Informationen über die Arbeit des JRS in der Region finden Sie hier: JRS Syrien und JRS Nordirak.
Englischesprachige Internetseite des JRS Mittlere Osten und Nordafrika:http: JRS Middle East

Das Interview führte Martin Stark SJ.

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