Beirut, ein Jahr nach der Explosion – eine Reflexion

Das ganze Leben für einen Regentag nutzlos gespart

Ryan Birjoo SJ ist 32 Jahre alt. Bevor er sein Philosophiestudium in New York abschloss und den Jesuiten beitrat, arbeitete er als Ingenieur. Er wurde für drei Jahre nach Beirut entsandt, um im Regionalbüro des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes zu arbeiten. Er ist im Moment der stellvertretende Kommunikationsbeauftragte. Ryan Birjoo kam zwei Wochen nach der Explosion vom 4. August 2020 in Beirut an. Er schildert uns seine Eindrücke ein Jahr später.

Ich blicke auf das schäumende Blau des Mittelmeers. Der Hafen ist nicht weit entfernt. Das Auf- und Abschwellen der Wellen erinnert mich an den Puls des Lebens und seine Zerbrechlichkeit. Gott, es gibt so vieles, was ich nicht verstehe, aber ich weiss, dass es ein Geschenk ist, hier zu sein. Gib mir Augen, um zu sehen, Ohren, um zu hören, ein Herz, das fühlt, und eine Stimme, die nach Gerechtigkeit schreien kann.

Ich denke an die Szenen, die mich bei meiner Ankunft in Beirut, zwei Wochen nach der Explosion, begrüssten. Ich habe ein flaues Gefühl im Magen, wenn ich mich daran erinnere, wie ich kilometerweit gelaufen bin und fensterlose Gebäude und Glas und Stahl in den Strassen gesehen habe. Eine Dunstglocke aus Staub schwebte immer noch über der Stadt. Die beiden schweren Holztüren der Jesuitengemeinde St. Joseph waren durch die Druckwelle hinweggefegt worden. Mit der Zeit wurden die Türen wie auch anderes repariert, Beirut war vom Brummen der Bauarbeiten erfüllt. Aber viele Gebäude sind nach wie vor beschädigt und dienen als ständige Erinnerung an die Wucht der Explosion und die Verantwortungslosigkeit, die dazu geführt hatte.

Auch unsichtbare Wunden und Narben bleiben. Der JRS im Libanon betreut viele Menschen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Plötzlich auftretende laute Geräusche wie Donnern oder das Schlagen von Türen katapultieren die Menschen immer wieder zurück an den Tag der Explosion. Die Traumata sind vielschichtig – vertriebene Syrer erzählten uns, wie die Explosion Erinnerungen an die kriegerischen Ereignisse auslöste, die sie dazu gebracht hatten, ihre Heimat zu verlassen, und Libanesen erinnern sich an die Tage des Bürgerkriegs.

Auch Covid-19 hat seinen Tribut gefordert – die Zahl der Infizierten erreichte nach den Weihnachtsfeiertagen mit 6200 pro Tag ihren Höhepunkt und überforderte das marode Gesundheitssystem völlig. Wir erlebten monatelang eine strenge Ausgangssperre, die die Armen zusätzlich belastete.

Aufgrund der zunehmenden wirtschaftlichen und politischen Krise seit 2019 ist der Wert der Währung um mehr als 90 Prozent gesunken. Die Gehälter sind nicht gestiegen, wohl aber die Preise für Grundnahrungsmittel. Die Menschen haben nur begrenzten Zugriff auf ihre Ersparnisse. Benzin und Medikamente sind nur schwer zu bekommen. Es gibt keine funktionierende Regierung und die allgemeine Stimmung ist von Unsicherheit geprägt. Wie ein Kollege sagte: «Ich habe mein ganzes Leben für einen Regentag gespart. Jetzt, wo der Regentag da ist, ist mein Geld nutzlos.»

Ich bin dankbar für die Möglichkeit, mit dem JRS im Libanon arbeiten zu können. Wir führten eine Bestandsaufnahme bei den Menschen durch, die in den Gebieten rund um die Explosion lebten, und verteilten Lebensmittel und Bargeld an die Bedürftigsten. Die Schülerinnen und Schüler an den vom JRS betriebenen Schulen nahmen weiterhin am Online-Unterricht teil und hielten inmitten vieler Herausforderungen durch. Einige ihrer Geschichten darüber, wie sie in ihren Zelten über WhatsApp weiter lernten, war eine Quelle der Ermutigung und Inspiration.

In einem Land, in dem Religion oft für Spaltung instrumentalisiert worden ist, bete ich um einen Blick, der uns erlaubt, die Menschlichkeit des anderen zu sehen. Und dafür, dass wir dazu beitragen können, nicht nur Gebäude wieder aufzubauen, sondern auch Vertrauen – auf ein Leben in Würde.

Ryan Birjoo SJ

Bildlegende:

Zeichnungen erinnern an die 200 Opfer der Explosion. Dieser Ausschnitt befindet sich gegenüber dem Märtyrer-Platz, Anfang der Gemmayze Street in Beirut.

Bild: JRS Libanon, aufgenommen von Nadine Malli

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